Mit 70 Jahren hat man in der Regel
einiges erlebt. Die allerwenigsten unter
uns können sich aber dazu aufraffen, dies
schriftlich zusammen zu fassen.

Wer dann tatsächlich die Energie dazu
aufbringt, versucht sich in mehr oder minder
wohlgeformten Sätzen. Einem Rentner war
das zu profan. Er reimte sich sein
Leben zusammen! Richard Fürl schrieb fünf
Bände in Versen, in schöner altdeutscher
Sütterlinschrift. Diese gereimte Biografie,
die Enkelin Elisabeth Kuban-Fürl auf
bewahrte, war eines der „Prunkstücke“ des
temporären Museums im Kantorhaus, das
schon an sich ein bemerkenswertes Projekt
war.

Erlebte Geschichte

Es resultierte aus einer Kooperation der
Stadt Bernau mit der Universität der Künste
in Berlin mit dem Ziel, Kunst in den
öffentlichen Raum zu bringen. Im
denkmalgeschützten Kantorhaus durfte die
31-jährige US-Amerikanerin Alexis Hyman
Wolff sich ihren Traum von einem Museum
verwirklichen. „Museum ist erlebte
Geschichte. Viele von uns bewahren
Gegenstände aus ihrem Leben oder von den
Vorfahren auf, weil dies hilft, sich zu
erinnern“, sagt sie. Ihre Idee war eine
„lebendige Ausstellung“, deren Bestand sich
danach richtet, was die Bewohner der Stadt
für zeigenswert halten. Das sorgte für viele
Überraschungen.

Verbotene Hits

So traf man auf einen Bernauer, der
Schelllackplatten sammelt. „Wolfgang
Werner hat zu Hause tausend alte
Platten und hat uns zehn davon samt
Grammophon zur Verfügung gestellt“, so
Alexis Hyman Wolff. Auf die Platten-
Leidenschaft kam er durch den Opa. Ein
Weiteres tat das Radio. „Werner hatte im
Rias die Sendung ‚Gestatten, alte Platten‘
gehört und sich davon zum Sammeln
anregen lassen.“ Diese Radiostation war
bekanntlich in Westberlin von der
amerikanischen Militärverwaltung ins
Leben gerufen worden, um die westliche
Weltsicht zu verbreiten.

Alte Zöpfe

Zu den unterschiedlichen Exponaten, die
persönliche Geschichten erzählen und
deshalb wiederum Bernauer
Heimatgeschichte sind, gehörten „alte
Zöpfe“ aus der Familie von Beate Modisch.
Eva Maria Rebs hat ihr Taufkleid zur
Verfügung gestellt. Sigrid Pulfer hingegen
brachte ihre „Hühnerfutterschale“. Sie war
Teil eines Services, das in Kriegszeiten
offenbar unterm Stroh versteckt worden war
und das sie als Kind gefunden hatte. Sie
liebte den Gegenstand so sehr, dass die
Bäuerin ihn ihr als Hochzeitsgeschenk
vermachte, das sie fortan aufbewahrte. Viele
Blicke gingen ins Leben während der DDR
zurück. So fand sich ein liebevoll gestaltetes
Buch, in dem die Hausgemeinschaft der
Schönower Chaussee 11 die Ereignisse
zwischen 1975 und 1979 beschrieb. Das
Besondere daran ist, dass das Gebäude je
zur Hälfte von Deutschen und russischen
Offiziersfamilien bewohnt war, was zur
damaligen Zeit alles andere als üblich war.
Es dürfte sich also um ausgesuchte und
besonders parteitreue Familien gehandelt
haben!

Panzer in der Kirche

Lange bevor „Schwerter zu Pflugscharen“ in
der DDR als Parole der Friedensbewegung
denUmbruch vorbereiten sollte, gingen die
Bernauer sehr pragmatisch ans Werk. Sie
hatten einen alten Übungspanzer im Wald
beim Rangierbahnhof Rüdnitz entdeckt und
sorgten für „Konversion“. „Die Räder
wurden abmontiert und für ein 16 Meter
hohes Gerüst eingesetzt, mit dem die
katholische Kirchengemeinde ihr
Gotteshaus innen renovierte“, schildert die
Kuratorin auf Zeit die interessante
Geschichte hinter den Metallungetümen.

Vergangenheit fühlen

Mit ihrem Experiment eines
„partizipatorischen Museums“ hat die
Kalifornierin aus Los Angeles einen neuen
Weg beschritten. Sie konnte in Bernau
beweisen, dass selbst aus zufälligen
Rückgriffen in private Erinnerungen ein
interessantes Gesamtbild mit erlebter
Geschichte entstehen kann. Die
Erinnerungsstücke einzelner Menschen
helfen uns allen, Vergangenheit zu erfassen
und zu fühlen. Schade nur, dass das
Museum im Kantorhaus als Kunstprojekt
nur bis 7. November ging. Allerdings dürfte
der Erfolg neue Impulse in der Museologie
schaffen, die weit über Bernau hinaus
wirken werden. Vielleicht sehen wir das
eine oder andere Exponat anschließend im
Heimatmuseum?

Infos:
Tel. 01 57/30 92 19 92

Ein Leben in fünf Gedichtbänden

Stand Oktober 2014

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Ausgerechnet der verbotene von den Amerikanern
finanzierte Rias brachte einen Bernauer dazu,
Schelllackplatten zu sammeln.

Alexis Hyman Wolff ließ die Bernauer in der
Geschichte kramen.

Deutsche und russische Offiziersfamilien unter einem
Dach: Wie sie die Zeit von 1975 bis 1979 erlebten,
zeigt diese, natürlich zweisprachige, Chronik des
Hauses Schönower Chaussee 11.

Es handelt sich hier um einen Archiv-Eintrag.
Die Informationen, Daten und Bilder sind möglicherweise veraltet und nicht mehr aktuell.


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