Wechselvolle Geschichte

Neue Orts-Chronik mit brisanten Enthüllungen

Nächstes Jahr feiert Lehnin seinen 925. Geburtstag. Das war nun endlich Grund genug, dass man beschloss, in die eigene Ortsgeschichte einzutauchen. Das Ergebnis wird als Chronik mit einem Umfang von etwa 150 Seiten gedruckt und pünktlich zu den Jubiläums-Feierlichkeiten im Mai 2005 erscheinen. Und es wird, das kann man schon jetzt vorhersehen, für etliche Diskussionen im beschaulichen und friedlichen Lehnin sorgen.
Denn wer würde denken, dass von diesem verträumten Flecken aus der Holocaust organisiert wurde?
Das genau aber haben die Autoren um den neuen Orts-Chronisten Jürgen Back und Dr. Hans-Martin Schneider, der als Gemeindeverordneter dem Komitee zur Vorbereitung des Jubiläums-Festes vorsitzt, herausgefunden. Demnach verlagerte die „Gruppe Eichmann“ nach der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942, bei der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde, Teile ihrer Büros von Berlin nach Lehnin. Damit wollten die Organisatoren des millionenfachen Judenmords vermeiden, durch alliierte Luftangriffe gestört zu werden. „In Lehnin wurde eine Siedlung mit sieben Baracken am Rande des Kloster-Geländes aufgebaut. Von hier aus wurde der weltweite Judenmord organisiert“, so Dr. Schneider.
Der Begründer der SPD in Lehnin arbeitete nach dem Krieg als Chirurg nur wenige Meter entfernt davon, im früheren Amtshaus. „Wir operierten unter unsäglichsten räumlichen Bedingungen im ehemaligen Wintergarten“, erinnert er sich. Die SS-Baracken fanden in der Nachkriegszeit eine Weiterverwendung als Altenheim. „In Eichmanns Mord-Zentrale wohnten sogar zwei Damen, die selbst Verfolgte des Nazi-Regimes waren. Das waren Toni Simon und Toni Glanz, allen bekannt unter dem Spitznamen 'Glanz undGloria’. Sie wussten, was in 'ihrem Zuhause’ früher passiert war“, so Dr. Schneider.
Bisher war man davon ausgegangen, dass in den SS-Baracken der „Generalbevollmächtigte Chemie“, kurz „Gebechem“ residierte und von hier aus den Einsatz von Zwangsarbeiter in der kriegswichtigen Chemie-Industrie koordinierte. Mittlerweile sind die SS-Baracken bis auf einen kleinen Rest abgerissen. Ob dort eine Gedenkstätte entstehen soll? Momentan wird darüber noch nicht diskutiert, doch das ist sicher nur eine Frage der Zeit.
Andererseits kann Lehnin einen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime vorweisen. Dr. Johannes Kreiselmaier, geboren am 18. Februar 1892, arbeitete von 1923 bis 1927 als Assistenzarzt am sexualwissenschaftlichen Institut des Freud-Schülers und Sozialisten Dr. Magnus Hirschfeld in Berlin. Er berät zur „Fortpflanzungshygiene“, Ehe und Mutterschaft sowie zu Fragen der Geburtshilfe. Er behandelt Frauenleiden und Allgemeinerkrankungen. Im Alter von 35 Jahren eröffnete er 1927 seine eigene Praxis in Lehnin in der heutigen Bahnhofstraße. Er leitete das kleine Krankenhaus in der Gohlitzstraße 23, in dem sich heute das Jugendheim befindet und kümmerte sich um das Säuglingsheim im Luise Henrietten-Stift. In jungen Jahren Kommunist, wandelte er sich in Lehnin zum begeisterten Nazi. Er tat sich als HJ-Stabsarzt, Förderer der SS und Mitglied der NSDAP hervor. 1938 verließ er Lehnin und führte in Berlin-Zehlendorf eine gut-gehenden Privatpraxis. Zu ihm kamen die Nazi-Oberen mit ihren Wehwehchen und plauderten über den immer hoffnungsloser werdenden Frontverlauf. Dr. Kreiselmaier wollte wohl nicht tatenlos zusehen, wie Deutschland der Vernichtung entgegenschritt. Er öffnete seine Praxis für Treffs von Widerstandsgruppen, die der Roten Kapelle nahestanden. Schließlich wurden seine Aktivitäten gegen das NS-Regime bekannt. Der Lehniner Arzt wurde am 27. November 1944 als Mitglied der KPD-Widerstandsgruppe Saefkow-Bästlein-Jacob in Brandenburg hingerichtet.
Ist das Wissen um die oftmals dunkle Vergangenheit der Grund, dass es bisher keine Chronik des Ortes im Schatten des Klosters gab? Dabei hat Lehnin eine äußerst bewegte Geschichte und oftmals große regionale Bedeutung. Richtig los ging es, als der Askanier Otto I. die Zauche als Taufgeschenk von einem Wendenfürsten bekam. Otto gründete 1180 das Zisterzienserkloster Lehnin. Es wurde zum Hauskloster der Askanier und später der Hohenzollern. Die beiden ersten, Markgraf Friedrich I. und Friedrich II., wurden 1440 und 1475 hier bestattet. Später wurden sie in den Berliner Dom „umgebettet“. Das mächtige Kloster wurde 1542 im Zuge der Säkularisation von Kurfürst Joachim II. samt aller 64 Dörfer aufgelöst und dem königlichen Besitz zugeführt. Nun konnte sich außerhalb der Klostermauern das eigentliche Dorf entwickeln. Das Königlich-Preußische Amt Lehnin hatte seinen Sitz allerdings im Amtshaus auf dem Klostergelände. Es verwaltete eine Region, die von Lehnin über Werder bis nach Teltow und Zehlendorf reichte. Es hatte sogar Marktrecht. Jedes Jahr gab es in Lehnin den Gründonnerstagsmarkt. Später wurde das Privileg an Werder weitergereicht. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm I. ließ einen Teil der Klosteranlage als Jagdschloss ausbauen. Seine kranke Ehefrau Luise Henriette, bekannt als Gründerin von Oranienburg, verbrachte dort die letzten Monate bis zu ihrem Tod am 18. Juni 1667.
Mit dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. erlosch allerdings das herrschaftliche Interesse, so dass das Schloss-Gebäude vom 18. bis zum 20. Jahrhundert dem Verfall preisgegeben war. Das Klosterareal verlor an Bedeutung, der Ort wuchs. Während der Gründerjahre entstanden in Lehnin und Umgebung viele Ziegeleien. Um das Baumaterial nach Berlin zu bringen, wurde der Emster-Kanal angelegt. Bootswerften am Klostersee hielten die Kähne betriebsbereit. Schließlich löste die Bahnlinie Groß Kreutz-Lehnin diese Verbindung ab. „Im Pendelverkehr wurden Kohle und Ziegeln befördert“, haben die Chronisten herausgefunden. Bis 1950 wurden Ziegel gebrannt. Letztes Zeugnis ist der Ringofen in Rädel.
Das Klosterareal geriet um 1850 in den Blick von König Friedrich Wilhelm IV. Auf seine Initiative hin wurde von 1871 bis 1877 die Kirche wieder aufgebaut. 1911 erwarb die evangelische Kirche das Areal und gründete ihr Diakonissenmutterhaus. Es unterstand wohl wegen der geschichtlichen Bedeutung als einziges direkt dem Konsistorium in Berlin. Das Ende des Kriegs machte Lehnin zum wichtigen Krankenhausstandort. Weil die Kliniken in den Städten zerstört waren, wurde in Lehnin ein Nothospital eingerichtet. Das Krankenhaus hatte später bis zu 180-Betten, eine eigene Chirurgie und Kinderklinik. Mit dem Bezug des Neubaus im Jahre 2000 konzentrierte man sich auf die Schwerpunkte Innere- und Alters-Medizin.
Lehnins Entwicklung durch die Jahrhunderte wird nun erstmalig in Buchform lesbar sein. Man darf jetzt gespannt sein, was die Geschichtsforscher noch herausfinden. Die 925-Jahr-Feier wird vom 28. Mai bis 5. Juni 2005 stattfinden. Die nächste Bürger- und Besucher-Information Lehnin wird das Programm und alle Höhepunkte beleuchten.
Infos: Dr. Hans-Martin Schneider Tel. 03382/700726

Dr. Hans-Martin Schneider praktizierte früher am Ort als Chirurg im Krankenhaus, war Mitbegründer der SPD nach der Wende, ist Gemeindevertreter und fand eine ganze Menge über die Historie heraus.

Von der früheren Barackenstadt blieb nicht mehr viel übrig. Erst jetzt wurde bekannt, dass die Gruppe Eichmann von hier den Holocaust organisierte.

Es handelt sich hier um einen Archiv-Eintrag.
Die Informationen, Daten und Bilder sind möglicherweise veraltet und nicht mehr aktuell.


Impressum | Datenschutz