Hennigsdorfs Geschichtsforscher sind ungewöhnlich fleißig

Männer machen Geschichte

Faszination Geschichte – davon sind in Hennigsdorf
viele erfasst. Während andere Orte froh sind, zumindest einen Orts-Chronisten zu haben, sind in der früheren Stahlarbeiterstadt gleich eine ganze Reihe von Freizeit-Forschern der Historie auf der Spur.Ein Dreh- und Angelpunkt für derartige Aktivitäten ist das Stadtmuseum im Alten Rathaus. Dort finden sich in mehreren Räumen interessante Ausstellungen. Ullrich Jainz war dafür federführend tätig. Der gelernte Grafiker ist Leiter des Stadtarchivs und damit der einzige Hauptamtliche unter den örtlichen Historikern. Während sein Archiv im Untergeschoss des Alten Rathauses wohlgeordnet sein Dasein fristet, findet sich Jainz als Person quer über den Hof in einem barackenartigen Gebäude. „Das soll abgerissen werden, wir kommen dann in die Alte Feuerwache!“ Das ist das nächste Gebäude, wieder quer über den Hof. So ziemlich jeder würde sich über einen derartigen Umzug freuen. Doch Jainz ist wenig begeistert: „Wir bräuchten den Platz dort dringend für Ausstellungsstücke!“ Wolfgang Loichen, 65, gelernter Elektroingenieur und nun Vorsitzender der Projektgruppe „Regionale Verkehrsgeschichte“ erklärt, warum: „Hennigsdorf war über lange Zeit ein wichtiger Standort für Schienentechnik. 1910 nahm die AEG die Lokomotivenproduktion auf. Hennigsdorf war deutschlandweit der einzige Standort, wo eine komplette Lokomotivenfertigung stattfand.“ Zusammen mit Werner Schlums, Peter Richter und Klaus Lorenz versucht Loichen, aus den alten Zeiten zu retten, was zu retten ist. So gelang es, das AEG-LEW-Archiv, das für Bombardier nicht mehr interessant war, zu sichern. Zuletzt konnten die rüstigen Rentner der Bahn das drei Zentner schwere Stellwerk von 1927 abluchsen, das sonst auf den Schrott gewandert wäre. „Wir wollen das Geschichtsbewusstsein fördern und die Leistung, die mit den Innovationen verbunden war, ins Blickfeld rücken“, fasst Loichen sein Ziel zusammen. Allerdings ist er traurig: „Wir haben keinen Platz, unsere Exponate öffentlich zu zeigen!“ Klar, jetzt stehen sie etwas ungeordnet in der Alten Feuerwache, doch der Platz wird ja gebraucht. Für Ullrich Jainz, der dort gar nicht hin will. Im ersten Stock der Alten Feuerwache sitzen weitere Mitstreiter von Ullrich Jainz. Dort treffen wir auf Antonius Teren. Er ist Vorsitzender des seit 1993 aktiven Geschichtsvereins. Teren ist super gelaunt. Denn kurz zuvor hat ihm eine Hennigsdorferin, „ganz spontan“ einen alten Volksempfänger vorbeigebracht. „Voll funktionsfähig“, freut sich Teren und würde das Prachtstück aus dem Jahre 1938 am liebsten gleich ins Stadtmuseum im Nachbarhaus schleppen. Geht aber nicht, denn das platzt ja aus allen Nähten. Auch dank Teren, der mit seinem Geschichtsverein viele Ausstellungsstücken gesammelt hat. Etwa einen der seltenen gezeichneten Ziegelsteine, die an Hennigsdorfs lange Tradition auf diesem Gebiet erinnern und der schon als Bauschutt auf dem LKW war! Um den 68-jährigen ehemaligen Techniker und früheren DDR-Ministerialmitarbeiter hat sich ein Kern von über einem Dutzend Geschichtsenthusiasten gebildet, der auf diversen Gebieten forscht, auf etliche Veröffentlichungen in Buchform verweisen kann und bei Vorträgen oder Informationsveranstaltungen in Schulen gefragt ist. Ebenfalls bei Vorträgen gefragt, aber ebenso wie Wolfgang Loichen nicht im Geschichtsverein mit dabei, ist Dr. Helmut Fritsch. Der heute 73-Jährige sattelte vom Bahnhofs-Gepäckträger auf den Lehrerberuf um und unterrichtete bis zur Pensionierung 1991 an Hennigsdorfs Puschkin-Gymnasium Biologie und Chemie. Schon frühzeitig begann er „alles zu sammeln“, zumindest erst mal, was seine Schule betraf. Zu DDR-Zeiten machte er durch eine wahre Flut von „Pädagogischen Lesungen“, die alle veröffentlicht wurden, von sich reden. Kaum im Ruhestand, erarbeitete er eine Chronik seiner Schule. Dabei stieß er auf jüdische Schüler und wollte wissen, was aus ihnen geworden ist. Er forschte und suchte und litt: „Im Archiv fand ich die Personalkarten inklusive Fotos. Die Namen bekamen Gesichter, es wurden Menschen daraus, deren Schicksal im KZ endeten.“ Einen Überlebenden konnte er in den USA ausfindig machen. Dr. Fritsch interessieren die persönlichen Schicksale, an denen die Ereignisse der Vergangenheit nachvollziehbar werden. Er spürte der Familie Cohn nach, die im „Schloss“ von Nieder Neuendorf wohnte und deren Name heute in der Cohnschen Siedlung weiterlebt. Er machte sich auf die Spurensuche nach dem jüdischen Landschaftsgestalter Ludwig Lesser, der für die Gartenstadt in Frohnau verantwortlich zeichnete und in Hennigsdorf seine Spuren im Rathenau-Park oder durch den Waldfriedhof als erste Urnengrabstätte in halbrunder Gestaltung hinterließ. Fritsch brachte Licht ins Schicksal der Zwangsarbeiter. Und nun gelang es ihm, „versteckte Grabstätten“ ausfindig zu machen. Bei soviel ehrenamtlichem Engagement der Bürger bleibt nun zu hoffen, dass die Stadt Hennigsdorf einen Weg findet, die diversen wertvollen Arbeitsergebnisse zusammenzuführen und möglichst vollständig öffentlich zu präsentieren.

Die Familie Cohn lebte auf dem „Schloss“ in Nieder Neuendorf. Nach ihr wurde das „Cohn’sche Viertel“ benannt.

Dr. Helmut Fritsch interessiert die Menschen, die hinter der Historie stehen.

Antonius Teren freut sich über den funktionsfähigen Volksempfänger.

Wolfgang Loichen (l.) und Ullrich Jainz freuen sich über das alte Stellwerk. Doch wohin damit?

Es handelt sich hier um einen Archiv-Eintrag.
Die Informationen, Daten und Bilder sind möglicherweise veraltet und nicht mehr aktuell.


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