In Stolzenhagen wohnt der bekannteste lebende Komponist Deutschlands

Zu Besuch bei Siegfried Matthus

Wer kennt sie nicht, „Die neuen Leiden des jungen W.“? Die Defa-Produktion von 1975 wurde weit über die DDR hinaus bekannt. Sie entstand, zumindest was die Vertonung anbetrifft, im Wald von Stolzenhagen!
Um zu Siegfried Matthus, dem Komponisten des Erfolgs-Films zu gelangen, ist es besser, seiner detaillierten Wegbeschreibung genau zu folgen. Dann aber wird man belohnt, mit einem überaus freundlichen Empfang. Dabei ist Matthus nicht irgendwer, sondern der renommierteste und erfolgreichste lebende Komponist Deutschlands! „Die Filmmusik damals, das war nur ein Ausrutscher, um ein wenig Geld zu verdienen“, räumt er unumwunden ein. Schön ist es, dass Matthus sich ehrlich freut, als ich mich mit ihm für ein Interview für die „Bürger- und Besucher-Information Wandlitz“ treffen möchte. Dabei ist er sonst gewohnt, dass die Weltpresse über ihn berichtet. Und außerdem hat er eigentlich keine Zeit, steht schon mit einem Bein im Flugzeug, um in Südkorea eine Gastprofessur anzutreten. Doch dann schafft er es doch noch. Ich stehe Gewehr bei Fuß in der Redaktion, um fast schon konspirativ, auf seinen Anruf zu warten. Pünktlich klingelt das Telefon: „Ich fahre jetzt von der Komischen Oper los. Wenn Sie ebenfalls starten, können wir in etwa gleichzeitig in Stolzenhagen ankommen!“
Wenig später empfängt er mich freudig in seinem dortigen Haus mitten im Wald.
Eine große gläserne Fensterfront signalisiert, dass der Komponist von elf Opern und an die tausend anderer Werke die Inspiration durch die Natur liebt. Die 71 Lebensjahre sieht man ihm nicht an. „Bis vor einem Jahr bin ich noch jeden Tag in den Stolzenhagener See gesprungen. Meine Badesaison erstreckte sich vom 1. Januar bis zu 31. Dezember“, gibt er eines seiner Geheimrezepte zum Fitbleiben bekannt.
Das andere dürfte in seiner ausgewogenen Persönlichkeit liegen. Kein Prominentendünkel, keine Skandale, seit 48 Jahren mit der Jugendliebe und Sängerin Helga Matthus glücklich verheiratet. Wenn es Wirbel um ihn gab, dann ohne sein aktives Zutun. Beispielsweise 1976, als das in der DDR hochgeschätzte Mitglied der Akademie der Künste auch an die „Akademie West“ berufen wurde. Und dann zwei Jahre später, als ihn die „Bayerische Akademie der Schönen Künste“ in München zu ihrem Mitglied wählte! „Das wurde in der DDR nicht so gern gesehen“, erinnert sich Matthus zurück. Doch er hatte sich nicht dafür beworben, und wenn ihn andere ehren wollten, warum nicht? Die DDR verzieh und verlieh ihm 1985 eine Professur. Der Westen ließ etwas auf weitere Avancen warten: Doch dann ging es Schlag auf Schlag: 1996 erhielt Matthus den Preis des Internationalen Theaterinstituts Berlin, zwei Jahre später den Preis des Verbands der deutschen Kritiker und 2000 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.
Siegfried Matthus wurde 1934 in Mallenuppen in Ostpreußen geboren. In den Wirren des Krieges verschlug es die Familie in ein kleines Dorf bei Neuruppin. Beide Eltern waren musikalisch, Siegfried begann in den Dörfer mit der Geige aufzuspielen und ließ sich mit Kartoffeln, Eiern, Fleisch und Wurst bezahlen. Es folgte das Gymnasium in Rheinsberg. Dort übernahm er mit 16 den Schulchor, komponierte erste Lieder, konnte Preise bei Landeswettbewerben gewinnen. Gleich nach dem Abitur 1952 ging es an die Deutsche Hochschule für Musik: „Mit meinen damaligen Vorkenntnissen hätte ich heute keinerlei Chancen mehr. Aber damals war das Niveau nicht so hoch, viele ältere waren im Krieg geblieben.“
Durch Rudolf Wagner-Regeny wurde Matthus mit der Moderne und dem Zwölf-Ton Konzept vertraut. Es folgten von 1958 an zwei Jahre in der Meisterklasse des legendären Hanns Eisler. Matthus hatte durch die beiden unterschiedlichen Impulse seinen musikalischen Ansatz gefunden. Sein Weg einer Musik der Moderne, die aber mit dem Publikum ging, sorgte für einen kontinuierlichen Aufstieg. 1960 wagte er bereits den Schritt als freischaffender Komponist. Schon bald darauf fand er in Stolzenhagen seine neue Heimat. „Ich war mit Freunden zufällig in die Gegend gekommen. Am Seeufer stießen wir auf mehrere verwilderte Grundstücke. Wir waren zu dritt und konnten also eine kleine Künstlerkolonie gründen!“
Wie bei vielen anderen auch, wurde aus dem Schuppen eine Datscha, aus der Datscha ein immer größeres Gebäude und mittlerweile ein Wohnhaus, das bei allem Sinn für eine geschmackvolle Inneneinrichtung nicht verleugnet, dass es Stück für Stück aus- und umgebaut worden ist. Im Arbeitszimmer steht, nein, kein Klavier, sondern ein Keyboard. Man sieht, vor der Technik ist niemand mehr gefeit. Die meisten seiner Kreationen sind hier in Stolzenhagen entstanden. Immer wieder haben ihn die Natur, der See, die Bäume inspiriert, berichtet der international geschätzte Künstler. Zur Liebe zur Natur und der privaten Kontinuität gesellt sich als prägendes Element die Treue zu seiner ersten Wirkungsstätte. Seit 1964 agiert er an der Komischen Oper als Komponist und Dramaturg, arbeitete mit Größen wie Walter Felsenstein, Götz Friedrich und Harry Kupfer zusammen. Eine ähnliche Treue verbindet ihn mit der Wirkungsstätte seiner Jugend, mit Rheinsberg. Er hob die Kammeroper Schloss Rheinsberg und das „Internationale Festival zur Förderung junger Opernsänger“, das er bis heute leitet, aus der Taufe. Und nun freut er sich schon auf das neue Theater, das Rheinsberg bekommen soll. Das 1200-Besucher-Haus soll Pfingsten 2006 eröffnet werden. Siegfried Matthus wird „beratend zur Seite stehen“ – ein guter Ausgangspunkt für den Erfolg eines neuen Hauses im schwierigen Kultur-Geschäft.
Seine ungewöhnliche Kreativität lässt Siegfried Matthus immer wieder im Rampenlicht stehen: So wurde mit seiner Oper „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ 1985 die Dresdner Semperoper wiedereröffnet. Und nun nahm er den Auftrag an, für die Wiedereröffnung der Dresdner Frauenkirche am 11. November 2005 das „Tedeum“ zu komponieren. „Das ist der schönste Auftrag meines Lebens“, gesteht er beim Gespräch in seinem Haus in Stolzenhagen.
An Ruhestand ist bei dem ruhelosen 71-Jährigen keinesfalls zu denken. Da ist es schon ein Erlebnis, wenn die Familie mal zusammen kommt. Sohn Frank war Schauspieler am Berliner Ensemble, hat vom Vater allerdings nur den Hang zur Nachwuchsförderung, nicht aber zur Beschränkung auf eine Bindung geerbt. Und so kann sich die Familie Matthus über Enkelin Elsa mit 18 Jahren und Enkel Tom mit sechs Monaten freuen!

Hier in Stolzenhagen entstanden viele der weltberühmten Werke von Siegfried Matthus, darunter allein elf Opern.

Im Arbeitszimmer seines Hauses in Stolzenhagen hat moderne Technik mittlerweile das Klavier ersetzt.

Die Badezeit des Komponisten ging noch bis zum 70. Lebensjahr vom 1. Januar bis zum 31. Dezember.

Aus Sohn Frank Matthus wurde ein bekannter Schauspieler.

Er nahm den Auftrag an, für die Wiedereröffnung der Dresdner Frauenkirche am 11. November 2005 das „Tedeum“ zu komponieren.

Es handelt sich hier um einen Archiv-Eintrag.
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